- Spätscholastik und Gnadenstreit
- Spätscholastik und GnadenstreitMit der katholischen Reform und dem Konzil von Trient als Reaktion auf den Protestantismus setzte eine Phase kirchlicher Stabilisierung und Konsolidierung ein. Hierbei knüpfte man inhaltlich zunächst an die Scholastik des Hochmittelalters an und entdeckte deren Repräsentanten als normative Größen neu. So wirkten Thomas von Aquino für die Dominikaner und Johannes Duns Scotus für die Franziskaner schulebildend. Dominikaner, Franziskaner und Jesuiten, die schon das Trienter Konzil beeinflussten, bestimmten die Theologie danach wesentlich mit. Ausgangspunkt dieses »Goldenen Zeitalters der Scholastik« wurden Universitäten wie Paris und Löwen, vor allem aber das spanische Salamanca, wo ganze Generationen von Dominikanern, aber auch etliche Jesuiten ausgebildet wurden; selbst protestantische Universitäten machten sich Anregungen von ihnen zu Eigen. Francisco de Vitoria begründete als Inhaber des ersten theologischen Lehrstuhls die »Schule von Salamanca«, die besonders dem Thomismus, der Verbreitung einer an Thomas von Aquinoausgerichteten Theologie, bedeutende Impulse verlieh. Er befasste sich intensiv mit der spanischen Kolonisation, dem Problem des ungerechten Krieges, der Sklaverei und dem Privateigentum. Gegen die universellen Ansprüche der weltlichen und geistlichen Herrschaft setzte er seine Idee einer weltweiten Rechtsgemeinschaft der Staaten und Völker. Er verwandte sich für die Souveränität der eroberten Gebiete und entwickelte so die ethischen Grundlagen der Menschenrechte und des modernen Völkerrechts. Sein Schüler Melchior Cano wurde zum Urheber einer kirchlichen Methodenlehre. Als bedeutendster Vertreter dieser spanischen Barockscholastik gilt allerdings der in Salamanca ausgebildete Jesuit Francisco Suárez, der kritisch nahezu alle Themenbereiche der Scholastik erörterte. Auch er arbeitete auf dem Gebiet des Völkerrechts. Als theologisch besonders folgenreich erwies sich sein Verständnis vom Naturrecht als Spiegel des göttlichen Gesetzes, in politischer Hinsicht seine Lehre von der Volkssouveränität und vom Widerstandsrecht. Die Arbeiten von Vitoria und Suárez bildeten die Basis, auf der wenig später der Niederländer Hugo Grotius die wissenschaftlichen Grundlagen des Natur- und Völkerrechts erarbeitete. Sein von der Existenz Gottes unabhängiges Rechtssystem leitete die Auflösung des christlichen Staates unter der Herrschaft von Kaiser und Papst ein.Auch das Konzil von Trient hatte die durch die Reformatoren angeregte Diskussion in ihrem theologisch wesentlichsten Punkt, der Frage von Gnade und Rechtfertigung, nicht beenden können. Noch ehe das Konzil zu Ende war, entspann sich eine Kontroverse zwischen dem Löwener Professor Michael Bajus und dem Jesuiten Leonhard Lessius über die richtige Interpretation des Augustinus hinsichtlich der menschlichen Verdienste, der Willensfreiheit und der Erbsünde. Ihre Auseinandersetzung bildete aber nur das Vorspiel zur größten dogmatischen Kontroverse der Barockzeit, die Katholiken wie Protestanten gleichermaßen in ihren Bann zog, zum Gnadenstreit.Jesuitische Theologen, allen voran der Spanier Luis de Molina, vertraten die Ansicht, ein kooperatives Zusammenspiel des freien menschlichen Willens mit der göttlichen Gnade bilde die Voraussetzung für das menschliche Heil. Doch wie sollte man dann noch von einer Allwirksamkeit Gottes sprechen? Dieses Problem suchte Molina unter Hinweis auf Gottes Vorherwissen zu lösen, ähnlich wie vor ihm bereits der Ire Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert. Dieses Gnadensystem stärkte zwar die menschliche Verantwortlichkeit und förderte damit auch die Ethik, stand aber in deutlichem Widerspruch zur Autorität des Thomas von Aquino und des Augustinus. Deren Schriften hatte der Dominikaner Dominikus Bañez wenige Jahre zuvor als Ansammlung von Lehrsätzen gelesen, die zwingend ein physisches Vorherbestimmtsein des Menschen durch Gott aussagen. Bañez konnte zwar von Gott als Ursache von allem reden, dafür wurden aber die Freiheit des Menschen, seines Willens und ein Zusammenhang zwischen ethischem Tun und Heil um so problematischer. Und musste dann Gott letztlich nicht auch für die Sünde und das Böse, für das Leben als Sünder oder Heiliger verantwortlich sein?Molina griff in seinem Buch Bañez massiv an. Bereits in diesem frühen Stadium zeigte sich, dass es hier jenseits der beiden Vertreter auch um zwei miteinander rivalisierende Orden ging. Nachdem ein Versuch Klemens' VIII. gescheitert war, die beiden streitenden Parteien durch ein Diskussionsverbot zur Ruhe zu bringen, kam es 1598 zu einem Prozess in Rom, bei dem 60 häretische Sätze Molinas verurteilt wurden. Nach endlosen Querelen, in denen bald die eine, bald die andere Partei die Vorteile auf ihrer Seite hatte, brachte Papst Paul V. die Angelegenheit zu einem vorläufigen Ende, indem er 1611 anordnete, Veröffentlichungen zur Gnadenlehre dürften nur noch mit Zustimmung der römischen Inquisition erfolgen. Indessen blieb das Verhältnis zwischen Dominikanern und Jesuiten dauerhaft gestört, der Gnadenstreit wurde schon wenige Jahre später vom Jansenismus erneut entfacht.Dr. Ulrich RudnickGeschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 31995.Soder, Josef: Die Idee der Völkergemeinschaft. Francisco de Vitoria und die philosophischen Grundlagen des Völkerrechts. Frankfurt am Main u. a. 1955.
Universal-Lexikon. 2012.